Lesung und Debatte mit Radka Denemarková und der Bucheditorin Silja Schultheis
Auf Einladung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds fand am Donnerstag, dem 20. Oktober, eine Lesung und Debatte mit der Schriftstellerin Radka Denemarková und der Verantwortlichen für die Öffentlichkeitsarbeit des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, Silja Schultheis, statt. Es ging – am Rande der Frankfurter Buchmesse – um das vom Fonds herausgegebene zweisprachige Buch „Jako by se to všechno stalo včera / Als wäre das alles gestern geschehen„.
Dr. Radka Denemarková ist neben anderen Ehrungen gerade mit dem Brücke Berlin Preis ausgezeichnet worden.
In Deutschland vertreibt der Mitteldeutsche Verlag das Buch, aus der Beschreibung von Inhalt und Zustandekommen:
„Im Mai 2020, zum 75. Jahrestag des Kriegsendes, wurden vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds knapp 1.000 Überlebende der nationalsozialistischen Verfolgung in Tschechien angeschrieben und u.a. gebeten, ihm ihre persönlichen Erinnerungen und Credos anzuvertrauen. Einige der Antworten, die in Form von Briefen, E-Mails, Essays, Büchern und Tonaufnahmen eingingen, wurden für dieses Buch verwendet.
Die Porträts von Karel Cudlín mit Zitaten der Überlebenden bilden 22 persönliche Lebensgeschichten ab. Sie stehen stellvertretend für unzählige andere. Gemeinsam ist ihnen allen, dass ihre Protagonisten als junge Menschen mit traumatischen Erlebnissen fertigwerden mussten, die auch mehr als 75 Jahre später unfassbar bleiben. Sie haben die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt durchlitten, die Auslöschung von Lidice überlebt, ihre Eltern wurden zum Teil vor ihren eigenen Augen erschossen, als Widerstandskämpfer hingerichtet oder kamen im KZ ums Leben. Bis heute werden die Überlebenden von diesen Traumata verfolgt. Dennoch klingt aus ihren Erinnerungen bewundernswert wenig Resignation heraus.
Radka Denemarková, eine der bekanntesten tschechischen Gegenwartsautorinnen, die sich mit den Erinnerungen der Verfolgten auseinandersetzte, hat sich von den Erinnerungen zu einem bemerkenswerten Essay über den Holocaust, die moderne Gesellschaft und die ihr immanenten Machtmechanismen inspirieren lassen. Sie versucht dabei, alltägliche Gewohnheiten zu hinterfragen. „Als wäre es gestern geschehen“ wirft Fragen nach dem Heute und Morgen, nach dem „Was weiter?“ auf. Nicht nur, aber auch im deutsch-tschechischen Kontext.“
Sehr imponiert hat uns, Winfried Kern und mir, die Analyse der Autorin zu den (Macht-)Mechanismen der industriealisierten Gesellschaft, die den Holocaust ermöglichten. Zitat:
„Es ist entsetzlich, dass so viele Menschen ums Leben gekommen sind. Einfach skandalös aber ist, dass der Holocaust hier stattgefunden hat, im zivilisierten, kultivierten, industriell entwickelten Europa, das auf einem christlichen Fundament und Phrasen von der Nächstenliebe ruht. Es ist skandalös, dass es in Europa zu so etwas kommen konnte. Dass so etwas überhaupt möglich ist. Dass wir so etwas zugelassen haben. Denn wir alle haben es zugelassen.“
Und sie stellt auch die Frage, ob der Holocaust „ohne die Technik und das industrielle Potential der modernen Gesellschaft gar nicht möglich gewesen wäre?“
Faszinierend sind die ausdrucksstarken Porträts von Karel Cudlín, und nachdenkenswert die kurzen, aber prägnanten Statements der 22 im Bild gezeigten, noch immer traumatisierten Überlebenden („Die Traumata von damals sind uns geblieben“, Hana Hermanová *1934), die aber andererseits auch einen positiven Blick auf die heutige Sichtweise auf Deutschland werfen („Sie haben meinen Vater ermordet. Trotzdem habe ich keine Wut auf die Deutschen, sie bieten doch ständig die Hand zur Versöhnung. Es ist eine andere Zeit heute.“ Renata Pavelková *1938).
Das Buch ist in jeder Hinsicht sehr empfehlenswert!